Die rauhe Welt

Limitir, Stadt des Handels, Stadt des Reichtums, Stadt der Welt!
Limitir, Stadt des Verbrechens, Stadt der Armut, Stadt der Welt!
Keine Stadt ist prächtiger, kultivierter, mächtiger, verehrter als Du!
Keine Stadt ist elender, gefährlicher, mächtiger, verachteter als Du!
Oh Limitir, du einzigartige Stadt, keine ist vielfältiger als Du!

In Limitir

Der Torwächter hockte verschlafen auf seinem Posten vor den Stadttoren und sehnte die Wachablösung herbei. Es war naß und kalt. Den ganzen Tag regnete es schon. Und gerade heute war er zum Wachdienst eingeteilt worden. Seine Nase troff vor sich hin, während er zitternd wartete. In Gedanken stellte sich der Torwächter vor, wie er zu Hause vor dem warmen Kamin saß, und sein Weib versorgte ihn mit künstlichen Speisen.
Haaatschiii! Ein gewaltiger Nieser explodierte in der Nacht. Fluchend wischte sich der Torwächter die Nase ab und kroch noch tiefer in die Ecke zwischen Außenmauer und Torflügel.
Da vernahm er aus der Ferne das Platschen von Füßen in Wasser. Jemand näherte sich. Das Platschen wurde stetig lauter, und jetzt glaubte der Torwächter auch Konturen von mindestens zwei Personen erkennen zu können. Ja, es waren zwei!
Schnell sprang er auf und nahm Haltung an. Er griff hastig nach seiner Hellebarde, die er ans Tor gelehnt hatte. So erwartete er die zwei Fremden.
Mit unsicheren Schritten kämpften sich die zwei Gestalten durch den niederprasselnden Regen.
Mit gemischten Gefühlen verfolgte der Wächter ihren erschöpften Marsch. Wer will schon um diese Zeit und dann noch bei solchem Wetter Limitir bereisen. Dies waren gewiß keine normalen Reisenden. Vielleicht Mörder, die ein Opfer suchten oder Kundschafter einer feindlichen Armee! Sollte heute der Krieg beginnen, vor dem die Seher und Gelehrten der Stadt andauernd gewarnt hatten?
Der Torwächter verlor etwas von seiner strammen Haltung. Er packte seine Hellebarde fester und versuchte erfolglos zu erspähen, ob die nahenden Personen irgendwelche Waffen mit sich führten. In Gedanken verfluchte er noch einmal diejenigen, die ihn für jetzt zum Wachdienst eingeteilt hatten, dann standen die beiden Gestalten vor ihm.
„Halt! Wer da?“, brüllte der Wächter übermäßig laut. Zum einen wollte er sich damit Mut machen, zum anderen hoffte er insgeheim, daß ihn jemand von den anderen Posten gehört hatte und ihm Beistand geben würde. Erschreckt wegen dieses Tonfalls zuckten die zwei Gestalten zusammen. Sie zitterten und hielten die Arme fest um den Rumpf geschlungen. Wasser lief in kleinen Bächen ihre Körper hinunter. Sie waren total durchnäßt.
„Wiiir siind zzzweeii Reiisende und eeerbitten Eiinlaß“, bibberte die größere von den beiden Gestalten mit einer tiefen Männerstimme. Sahen so Mörder aus? Ein jämmerliches Bild gaben die zwei ab. Der Torwächter wurde zuversichtlich, daß es sich hier wirklich um harmlose Reisende handelte und nicht um ... .
Er verdrängte diese Gedanken schnell. Schließlich wollte der Wächter sich nicht unnötigerweise in Panik denken.
„Die Tore sind seit Sonnenuntergang geschlossen; kommt Morgen wieder!“ hörte sich der Wächter sagen. Das war der Routinesatz, den er benutzte, um jemanden abzuwimmeln, der zu spät Limitir erreichte.
Zuerst drehten sich die zwei bemitleidenswerten Wesen um und schlurften schweigend davon. Doch dann hielten sie inne, machten erneut kehrt und traten wieder vor den Wächter.
„Uuund wenn sssiiee eiine Auusnaahme machen wüüürden?“
Der Wächter schnaufte zornig und bedachte seine Gegenüber mit erbosten Blicken.
„Da könnte ja jeder kommen.“ zeterte er, wobei er zur Einschüchterung seine Hellebarde ein wenig herum schwenkte. „Packt euch!“
Wieder zuckten die beiden zusammen. Es herrschte unschlüssiges Schweigen. Dann rang sich die kleinere Gestalt zu einer Frage durch.
„Uundd wennn wir fffür das Betreeeten deer Ssstadt bezaahlen wüürden?“ Was jetzt kam, war ebenfalls reine Routine und ließ den Wächter innerlich frohlocken.
Nach einigem hin und her hatte man sich geeinigt. Mit einem hinterhältigen Lächeln ließ der Torwächter die Reisenden passieren. Danach lehnte er sich zufrieden ans Stadttor und wartete fröhlich auf seine Ablösung.
War das nicht eine herrliche Nacht?

Olf und Hohk eilten durch den Regen und suchten verzweifelt eine trockene Unterkunft. Sie froren und fühlten sich, als wären sie tagelang in Eiswasser geschwommen. So kalt und naß war es.
Häuserfassaden huschten an ihnen vorbei, doch überall waren die Zimmer dunkel. Es schien den beiden eine Ewigkeit zu dauern, als sie in der Ferne einen Lichtschein ausmachten. Sie spornten sich gegenseitig an und aktivierten die letzten Reserven ihrer erschöpften Körper, um so schnell wie möglich das Licht zu erreichen.
Zu beider Bedauern stellte sich der Ort des Lichtscheins nur als eine Art Wachhaus heraus, in dem zwei Gardisten saßen und sich mit Würfeln die Zeit vertrieben. Hinter dem Wachhaus erstreckte sich eine breite Holzbrücke über einen reißenden Fluß. Auf der anderen Seite des Flusses waren viele Lichter zu erkennen.
Hohk und Olf wechselten einen kurzen Blick. Dann rannten sie los, über die Brücke, auf die Lichter zu.
Wie auf der einen, so stand auch auf der anderen Seite der Brücke ein Wachhaus, aus dem aber Gelächter tönte. Als Hohk und Olf das Haus passierten, erstarb das Gelächter und eine der Wachen öffnete die Tür nach draußen.
„He, ihr,“ rief der Wachposten hinter den beiden Freunden her, „kommt sofort zurück!“
Doch der stark niederprasselnde Regen, die peitschenden Sturmböen, das eigene Atmen und das laute Pochen des Herzens übertönten die gerufenen Worte, und Olf und Hohk eilten weiter, den Lichtern entgegen.
Ein fauliger und nach Urin und Kot stinkender Geruch trieb den beiden in die Nase. Und je weiter sie sich von der Brücke entfernten, um so schlimmer wurde der Gestank. Hohk rümpfte angewidert die Nase und Olf tat es ihm gleich. Doch schwiegen sie und rannten weiter.
Blitze zuckten vom Himmel, gefolgt von krachenden Donnerschlägen. Der Wind wurde stärker und trieb Hohk und Olf vor sich her.
Fast gleichzeitig entdeckten sie beide vor sich ein größeres Haus, in welchem Licht brannte und Gelächter ertönte. Hohk fiel in einen leichten Trab, dem sich Olf gerne anschloß. Sie atmeten schwer und sehnten sich nach einem warmen weichen Bett.
Aus dem hell erleuchteten Haus trieben wohlige Gerüche nach draußen Es roch nach gebratenem Huhn und saftigem Rindfleisch. Olf lief das Wasser im Mund zusammen, deshalb nahm er die letzten Meter mit einem kurzem Spurt. Hohk folgte dicht auf.
Olf öffnete die hölzerne Schwingtür und trat ein. Hohk schob sich hinterher. Ein Schwall von warmer, verrauchter Luft überrollte die zwei pitschnassen Männer. Gebannt schauten sie auf die Szenerie, die sich ihnen bot.
Dies mußte der Innenraum einer Spelunke sein. An runden Eichentischen kauerten oder saßen Menschen, redeten, lachten, sangen, aßen, tranken. Sie alle machten einen geselligen Eindruck und ließen sich durch das plötzliche Auftauchen von Hohk und Olf nicht in ihrem Tun stören.
Eine lange Theke zog sich gegenüber des Eingangs von Wand zu Wand. Dahinter war ein äußerst fetter Wirt damit beschäftigt, Met und Wein nachzufüllen und Gläser zu reinigen. Rechts vom Eingang brutzelte über einem großen Feuer ein Schwein, das langsam an einem Spieß gedreht wurde. Links des Eingangs schließlich war der Raum dunkel gehalten. Dicke Vorhänge verdeckten den Blick auf mehr.
Ohne es recht gemerkt zu haben, hatte sich Hohk an das warme Feuer gehockt und ließ sich langsam trocknen. Er drehte sich nach Olf um, konnte ihn aber nicht entdecken. Hohk wollte schon aufspringen, als sich eine Person von der Theke löste und grinsend auf ihn zuschritt.
„Hier trink!“ forderte Olf seinen Freund auf und hielt ihm einen dampfenden Krug entgegen. „Heißer Wein! Tut gut!“
Vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, setzte Hohk den Krug an den Mund und ließ etwas von der heißen Flüssigkeit seine Kehle hinunter rinnen. Trotzdem erwischte er beim ersten Schluck zuviel Wein, worauf er immer wieder nach Luft ringend hustete.
Olf lachte schadenfroh und nahm aus einem zweiten Krug einen kleinen Schluck. Hohk trank noch vorsichtiger weiter.
Der heiße Wein schmeckte angenehm süß. Und bald schon erfüllte die leckere Flüssigkeit Hohks Inneres mit wohliger Wärme. Zufrieden rutschte er noch etwas näher an die Feuerstelle. Olf nahm neben ihm Platz.
Während Hohks Körper sich erholte, ließ er in seinem Geiste noch einmal das Geschehene ablaufen. Nachdem Olf und er sich vom Schlafplatz am Strand auf den Weg gemacht hatten, waren sie einen halben Tag über Wiesen und durch Wälder gewandert, bis sie in der Ferne die höchsten Türme Limitirs ausgemacht hatten. Sie hatten dann beschlossen zu rasten und am nächsten Morgen das letzte Stück des Weges zurückzulegen. Mitten in der Nacht fing es zu regnen an. Olf und Hohk hatten unter einer dichten Tanne Schutz gefunden. Sie warteten noch mehrere Stunden nach Sonnenaufgang, das der Regen enden würde. Doch den Gefallen hatte er ihnen nicht getan. Schließlich ignorierten sie den Regen und zogen los.

Kreechh! Ein Scheppern unterbrach Hohks Gedanken und ließ ihn zusammenfahren. An einem Tisch hielten sich drei angeheiterte Kumpanen die Bäuche vor Lachen und zeigten gackernd und johlend immer wieder auf einen kleinen Knaben, wohl der Küchenjunge, der am Boden kniete und sich hastig beeilte, Tonscherben aufzulesen. Wahrscheinlich hatte er mehrere Krüge fallen lassen, denn der Wirt stand schon hinter dem Jungen und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige, sehr zur Schadenfreude der drei Betrunkenen, die gleich noch etwas lauter gackerten.
Angetrieben durch die Schmähungen und erbost über den Verlust der Krüge mitsamt Inhalt hieb der Wirt immer fester auf den armen Jungen ein, der sich unter Schmerzen krümmte.
Hohk hatte genug gesehen. Er packte den Einhornspeer, welcher ihm auf der Reise nach Limitir als Wanderstab gute Dienste geleistet hatte und sprang mit einem lauten „HE DA!“ auf den fetten Wirt zu.
Dieser wollte gerade wieder auf das wimmernde und schluchzende Kind einschlagen, stoppte aber in seiner Bewegung und schaute überrascht und mürrisch zugleich zu Hohk hinüber, während seine Hand knapp über dem Jungen schwebte.
„Was soll das, Mann?“ schnauzte der Wirt, wobei sein Gesicht sich vor Wut rot färbte.
Schlagartig verstummten alle Gespräche. Köpfe fuhren herum, Augenpaare richteten sich auf Hohk und den Wirt. Alle warteten gespannt auf das, was jetzt folgen würde.
„Laß den Jungen in Ruhe! Du hast ihn schon halb tot geprügelt!“ durchbrach Hohk die unnatürliche Stille, die so plötzlich eingetreten war. Das zuckende und schluchzende Kind hob sein durch Schläge geschwollenes Gesicht und warf Hohk aus tränenunterlaufenen Augen einen dankbaren Blick zu.
„Dies hier ist meine Kneipe und das ist mein Küchenjunge!“ brüllte der Wirt zurück, wobei sein Wanst ähnlich zu wackeln und schwabbeln begann, wie der Junge zuckte. „Und in meiner Kneipe darf ich tun und lassen, was ich will und erst recht meinen Küchenjungen züchtigen!“
Jedesmal, wenn der Wirt das Wort ‘meinen’ ausstieß, klopfte er bekräftigend mit seinem Zeigefinger auf seine Schwabbelbrust.
„Zwischen züchtigen und halbtot prügeln sehe ich aber einen kleinen Unterschied!“ erwiderte Hohk unbeeindruckt. Seinen Speer ließ er mit jedem Wort kleine Kreise ziehen.
Der Wirt erkannte die unausgesprochene Drohung, gluckste erschreckt auf und wich mit dem Rücken bis an die Theke zurück.
Hohk wartete noch einen kurzen Moment, dann schritt er langsam zu dem Küchenjungen und half diesem auf die Beine.
In dem Augenblick trat einer der drei Betrunkenen mit aller Kraft zu.
Hohk spürte einen stechenden Schmerz in der Seite und prallte, von dem harten Stiefeltritt voran gestoßen, neben dem Wirt an die Theke. Mit einem dumpfen Pochen stieß er mit dem Schädel gegen das stabile Eichenholz und rutschte benommen auf den Boden. Lachend und johlend erhoben sich nun alle drei Säufer und wankten auf ihr ausgewähltes Opfer los. Der fette Wirt lächelte schräge, verzog sich aber sicherheitshalber hinter die Theke.
„Nu lasch unsch man ‘n bischen Schpass habn“ lallte der Säufer, der Hohk auf die Bretter befördert hatte. Die beiden anderen murmelten zustimmend und ballten die Fäuste.
Doch bevor der am nächsten stehende ausholen und Hohk schlagen konnte, spürte er ein Tippen an der Schulter. Neugierig drehte er sich um und sah gerade noch, wie eine große Faust mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf sein Gesicht zuschoß. Dann war es schwarz um ihn.
Überraschte Laute ausstoßend wandten nun auf die beiden anderen Betrunkenen Gestalten dem neuen Angreifer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu. Sie erblickten einen Hünen vor sich, der sie mit wütender Miene aus blitzenden Augen anstarrte.
„Das hättet ihr lieber bleiben lassen sollen“ flüsterte Olf mit eiskalter Stimme. Unwillkürlich wichen die beiden Schläger ein paar unsichere Schritte zurück. Zornig setzte Olf nach und schlug den zweiten Mann bewußtlos. Anerkennendes und erregtes Gemurmel zog sich durch die Reihen der Zuschauer, verstummte dann wieder.
Hohk schüttelte benommen den Kopf und zog sich stöhnend an der Theke hoch. Besorgt hielt Olf in seinem Tun inne und betrachtete seinen angeschlagenen Freund. Dies nutzte der letzte Säufer, um sich mit einem Verzweiflungsangriff auf den überrumpelten Olf zu stürzen und ihn zu Boden zu ringen. Applaus und Anfeuerungsrufe hallten durch die Spelunke. Wetten wurden abgeschlossen, wer von den beiden Kämpfern nun gewinnen werde. Olf war im Nachteil. Er hatte die Geschicklichkeit seines Gegners unterschätzt. Dieser kniete nun mit seinem ganzen Gewicht auf Olf und schlug wie irr auf ihn ein. Schlag um Schlag prasselte auf Olf hernieder. Bald würde er die Besinnung verlieren.
Hohk nahm die Auseinandersetzung der beiden nur Schemenhaft wahr. Doch er erkannte die mißliche Lage seines Freundes. Er wollte sich schon blindlings ins Gemenge stürzen, als er von kräftigen Händen gepackt und an die Theke gezogen wurde.
„Wo willst du denn hin?“ knurrte der Wirt mit gespielter Überraschung und zog Hohk noch fester gegen die Theke, als dieser sich aus der Umklammerung befreien wollte. So mußte Hohk hilflos mit ansehen, wie sein Freund von dem Betrunken mit Hieben bearbeitet wurde.
Plötzlich huschte eine Gestalt mit feurigroter Mähne auf den Säufer zu und hieb ihm mit der Handkante gegen den Nacken. Wie ein gefällter Baum sank der Betrunkene zur Seite und rührte sich nicht mehr.
Buhrufe hallten durch den Raum, Tische und Stühle rückten hin und her, als sich mehrere Männer, erbost über das unvorhergesehene Ende des Kampfes, erhoben und ihre Meinung zum Eingreifen der Gestalt zeigen wollten. Hohk rechnete mit dem Schlimmsten, als plötzlich ein Sinneswandel über die stark angeheiterten Männer kam. Alle setzten sich unsicher auf ihre Plätze zurück und harrten der Dinge, die da kommen mögen. Auch dem Wirt schien die Lust zum Kämpfen geschwunden zu sein, denn er zog sich von Hohk zurück. Dieser schüttelte noch einmal den Kopf und visierte dann Olfs Helfer an.
„Eine Frau!“ entfuhr es Hohk überrascht. Vor ihm lauerte, zum Kampf bereit, eine äußerst ansehnliche Frau mit langem feuerroten Haar, das ihr wild über die Schultern floß. Sie hatte schöne gewundene Hüften und eine gewaltige Oberweite.
Auf Hohks Ausruf hin drehte die Rothaarige ihr hübsches Gesicht in seine Richtung und lächelte ihn überlegen an, während ihre grünen Augen Hohk schelmische Blicke zuwarfen.
Sofort fuhr sie wieder herum und betrachtete wachsam ihre Umgebung. Als die Frau sah, daß keiner der Anwesenden Interesse zeigte, sich mit ihr anzulegen, wurde sie lockerer. Sie spuckte demonstrativ aus und fauchte dann, wie zuvor Hohk gesprochen hatte, in die Stille der Spelunke. „Feiges, besoffenes Pack! Immer Streit suchen, immer auf die Schwachen! Und wenn einer es nicht schafft, dann eben gemeinsam! Ihr kotzt mich an! Wenn ich euch sehe, sehe ich Dreck!“ Wieder spuckte die temperamentvolle Frau aus. Dann wandte sie sich Hohk zu.
„Hilf deinem großen Freund und geh mit ihm nach draußen!“
Hohk nickte verstehend und tat wie ihm geheißen.
„Und nimm auch den Jungen mit!“ forderte sie. Mit einem bösen Seitenblick auf den Wirt gerichtet.
Auch dies befolgte Hohk ohne Umschweife. Schließlich torkelten die drei angeschlagenen Vertreter der männlichen Gattung wie Betrunkene aus der Spelunke und atmeten die stinkende Luft des Bezirkes ein.
Kurze Zeit später tauchte die hübsche Retterin hinter den dreien auf und gebot ihnen, ihr zu folgen. Es ging durch breite Straßen und dunkle Gassen über Treppen und Mauern, bis das Gespann eine kleine Scheune erreichte, in der es trocken und warm war. Es roch angenehm nach frischem Stroh. Und die vier ließen sich einfach auf einen solchen Haufen fallen, wo sie erschöpft und müde augenblicklich einschliefen.

Hohk saß auf dem Felsvorsprung, dem Ort, an welchem er den Drachen getroffen hatte. Hier im Gipfel eines gewaltigen Bergmassivs atmete der junge Mann dünne, kühle Luft ein.
Irgendwie wirkte dieser Ort trostlos und leer und Hohk fragte sich erschauernd, warum er sich ausgerechnet hierhin geträumt hatte. Während Hohk noch über die zerklüftete und wolkenverhangene Welt spähte und gedankenverloren auf und ab ging, vernahm er plötzlich ein Rauschen, wie das Schlagen von gewaltigen Schwingen. Ein bedrohlich wirkender Schatten legte sich dunkel über Hohk und dessen Umgebung.
Hohk schaute furchtlos in den Himmel über sich und war nicht sehr überrascht, als er den Drachen erblickte, der mit sichtlicher Mühe versuchte, seine Position zu halten.
„Komm!“, fauchte der Drache und glitt noch ein paar Meter tiefer, wobei er seine gewaltigen Lederschwingen wild flattern ließ.
Hohk verstand. Schnell schwebte er zu dem Drachen empor und nahm im Nacken des freundlichen Ungeheuers Platz.
Sofort sauste der Drache mit weit ausholenden Flügelschlägen über die Berge dahin. Der Fahrtwind riß Hohk beinahe von dem Schuppentier herunter, doch er schaffte es gerade noch, sich in der dicken, rauhen Haut festzukrallen und seinen Körper dicht an den des Drachen zu drücken. Mit unglaublicher Geschwindigkeit jagte der Drache dahin, einem fernen Ziel entgegen, das nur er zu kennen schien.

Olf schrie vor Schmerzen auf, als er versuchte, sich aus seinem Strohlager zu erheben. Arme und Schultern, Brust und Nacken und vor allem der Kopf taten höllisch weh. Stöhnend sank er zurück und rührte sich nicht mehr. Seine Lippen und Augenpartien waren geschwollen, ein Zahn angebrochen und auf seinen Ohren lag ein ungeheurer Druck, als würden sie jeden Moment platzen.
„Bewege dich nicht, bleibe still liegen!“. Die überflüssige Bemerkung kam von der rothaarigen Schönheit. Olf wollte schon zu einer spitzen Erwiderung ansetzen, doch jede noch so kleine Bewegung des Kiefers brachte einen stechenden Schmerz mit sich. Olf zuckte schmerzlich daran erinnert zusammen.
„Ach ja! Es wäre besser, wenn du auch nicht zuviel reden würdest. Dein Kiefer ist stark geprellt.“
Warum fällt ihr das immer zu spät ein?, beschwerte Olf sich in Gedanken. Langsam fange ich an, diese Person zu hassen!
Neben Olf - er konnte nicht sehen, wohl aber hören - jaulte der Junge auf und fluchte ausgiebig.
„Es ist gleich geschafft, Ricky!“, redete die Frau beruhigend auf den Jungen ein. „Deine Schulter hat sich verrenkt und ich muß sie dir wieder einrenken, das verstehst du doch?“
„Nein, das verstehe ich nicht“, kam die ängstliche Antwort. „Es wird bestimmt sehr weh tun!“
„Ja, das wird es, Ricky-Schatz, aber du willst doch deinen Arm richtig gebrauchen können, wenn wir uns an dem Wirt rächen wollen!“
Olf traute seinen Ohren nicht. „Rächen...?“, platzte es aus ihm heraus. Sofort bereute er es. Ein tiefes Stöhnen ausstoßend erlebte er die Quittung seines geprellten Kiefers auf diese heftige Bewegung hin.
Die Rothaarige lachte amüsiert auf, wurde aber gleich wieder ernst.
„Das willst du doch, oder Ricky?“
„Natürlich will ich es dem fetten Schwein heimzahlen!“, fluchte der Junge aufbrausend. „Na mach schon, Yori! Laß es schnell geschehen!“
Olf verstand die Welt nicht mehr. Ein kleiner Knabe, bestimmt nicht älter als zehn Jahre ... .
Ein leises Knacken gefolgt von einem um so lauteren Heulen unterbrachen Olfs Gedanken. Das Heulen wurde zu einem Wimmern, das von der sanften Stimme Yories begleitet wurde. Schließlich verstummte der Junge ganz.
Bald darauf kniete sich Yori neben Olf und betastete Olfs Körper. Normalerweise hätte Olf ihre Berührungen liebend gerne gespürt, doch jetzt löste jedes noch so kleine Antippen große Schmerzen aus, unter denen sich der gepeinigte Olf hin und her wand. Dann begann die schreckliche Person auch noch an ihm rumzuknoten und zu massieren. Olf hätte sie am liebsten umgebracht. Aber nach einiger Zeit entkrampfte sich der Körper und die Schmerzen ließen merklich nach. Olf überlegte mit geschlossenen Augen, daß er die Sache mit dem Umbringen wohl doch nicht zu machen brauchte. Denn je länger Yori ihre geschickten Finger über Olfs Körper gleiten ließ, desto angenehmer wurde diese Behandlung. Olf seufzte zufrieden und ließ sich einfach treiben.

Hohk genoß jeden Atemzug, den er auf dem Nacken des Drachens erlebte. Es schien, als würde Hohk sein ganzes Traumland durchreisen.
Große, kleine, bekannte und abstrakte Ländereien und Wesen tauchten auf, schossen an Hohk vorbei und verschwanden in der Ferne. Schillernde Farben, vielfältige Geräusche; egal, wohin Hohk auch sah, nichts glich dem anderen, alles war einzigartig, phantastisch!
„Wir sind gleich da!“, fauchte der Drache. Auch jetzt nach einer ewig erscheinenden Zeitspanne waren seine Flügelschläge noch kraftvoll und kontrolliert.
„Ist das hier alles in meinen Träumen?“, brüllte Hohk gegen den Fahrtwind.
„Das hier sind Traumwelten aus allen Träumen, die Du bis jetzt gehabt hast. Jeder Traum bedeutet eine neue Welt!“ Der Drache sank etwas tiefer und verlangsamte den Flügelschlag. Immer weiter glitt das ungleiche Paar herab, immer länger dauerte es, bis eine Traumwelt überflogen war.
Unter Hohk zog eine weiße Eiswüste dahin, kahl und trostlos, kalt und lebensfeindlich. Jetzt wechselte das Eis die Farbe, aus weiß entstand grau und aus grau wurde beige. Sanddünen erhoben sich wie ausgetrocknete Wellenzüge und umzingelten ein dunkelblaues Gewässer, in welchem riesige Körper schwammen. Hohk konnte nicht erkennen, um was es sich da handeln konnte. Wahrscheinlich waren es Fische. Es mußten Fische sein, denn was lebt sonst im Wasser?!
Hohk betrachtete diese Welt genauer.
Sie erinnerte ihn irgendwie an den alten Fischer Zugjo und dessen vermoderte Hütte am Strand, wo Olf und Hohk auf ihn gestoßen waren. Exel, der Zwerg und Serina, die geheimnisvolle Magierin!
Hohk fühlte sich an sie alle erinnert.
Beim Gedanken an Serina überlief es Hohn heiß und kalt. Deutlich sah er ihr wunderschönes Gesicht, ihre unter der grünen Robe erkennbaren Rundungen vor sich. Er sah ihr Lächeln, spürte ihre Berührung, als sie ihn von dem Übelkeitsgefühl befreite. Wärme, Liebe, Geborgenheit, dies alles hatte Serina Hohk gegeben. Wie konnte er sie nur vergessen?
„Jetzt ist der junge Fisch ins Netz gegangen“, lachte der Drache amüsiert.
„Wie meinst du das?“, gluckste Hohk und fuhr sich verlegen durch das struppige, dunkle Haar, während sich seine Wangen rötlich verfärbten.
„Du weißt genau, wie ich das meine!“, antwortete der Drache keck.
„Nun, naja, Äh ... also ich, äh ...“ Hohks Gesicht erreichte nun ungefähr den roten Farbton von den Haaren Yories. Der Drache lachte erneut, wobei kleine Rauchschwaden aus seinen Nüstern stoben.
„Komm schon! Das muß dir doch nicht peinlich sein ... äh, hmm ...“
„Was ist?“, erkundigte sich Hohk unsicher. Der Drache schielte mit einem Auge in Hohks Richtung.
„Mir fällt gerade ein, ich weiß gar nicht, wie Du heißt!“
Hohk dachte darüber nach, überlegte angestrengt. Den Namen das Drachen kannte er auch nicht, zumindest konnte Hohk sich an keinen Namen erinnern.
„Du hast recht!“, erwiderte er belustigt. „Wir kennen uns beide nicht mit Namen!“
„Nun dann sollten wir dem Abhilfe schaffen! Mein Name ist Sschoarr!“, tönte der Drache feierlich.
„Und ich werde Hohk genannt!“, verkündete Hohk nicht minder gehoben. Kurze Zeit blieben die beiden stumm. Doch Hohk bohrte noch nach Sschoarrs Bemerkung mit dem Fisch im Netz.
„Sag mir, Sschoarr, woher wußtest Du, daß ich gerade an ..., äh was ich gerade gedacht hatte? Oder hatte ich etwa einen Tagtraum und habe unbewußt im Traum geredet?“
„Nein, nein!“, beruhigte Sschoarr seinen kleinen Begleiter. „Du hast bestimmt nicht im Tagtraum geredet.“ Wieder lugte Sschoarr mit einem Auge auf Hohk. „Wir Drachen sind magische Wesen, unsterblich und mächtig. Wir schöpfen Kraft aus kosmischen Energien, wie den Strahlen der Sonne, um ein Beispiel zu nennen. Diese Kraft haben wir gelernt zu benutzen, zu lenken. Und doch lenkt uns diese Kraft, ist einfach da, wirkt auch selbständig ohne unser Zutun. So ermöglicht mir diese Kraft deine Gefühle zu erkennen. Deshalb wußte ich von Deiner Serina!“
Hohk wußte nicht, was er jetzt noch sagen sollte; also schwieg er einfach und dachte sich seinen Teil. Drachen sind magische Wesen? Sschoarr kann meine Gefühle deuten?
„Das ist korrekt!“ schaltete sich Sschoarr ein. Jetzt wurde Hohk ungehalten ob dieser Beschattung. Ärgerlich schnauzte er Sschoarr an. „Ich finde das gar nicht so toll mit dem Gedankenlesen. Kannst Du nicht aus mir herausbleiben? Schließlich habe ich ein Recht auf meine Privatsphäre!“
„Hast du denn irgend etwas zu verheimlichen?“, erkundigte sich Sschoarr mit unschuldiger Stimme. „Schämst du dich für deine Gefühle , daß ich, immerhin ein Freund und dann noch ein Drache, sie nicht lesen darf?“
Hohk stutzte. Auf diese Frage fand er keine ausreichende Antwort.
„Nein. So ist das nicht. Ich meine das nur so aus Prinzip, weißt Du. Ich meine, wenn jemand immer genau das wüßte, was Du denken würdest, würde Dich das mit der Zeit nicht nerven und ärgern?“ Sschoarr nickte bedächtig und beließ es dabei.
Mittlerweile war der Küstenstreifen einer Waldregion gewichen, die grün und braun aus Nadel- und Laubbäumen bestanden, deren Kronen den Blick auf den Waldboden verdeckten. Sschoarr begann über dem Wald zu kreisen. Er suchte anscheinend etwas bestimmtes.
„Ha! Volltreffer!“, lobte der Drache sich selbst und flog auf eine große Waldlichtung zu, die sich wie ein hellgrünes Auge aus dem Rest der Region abhob. Blätter wirbelten herum, Äste knackten, als der Koloß mit einem dumpfen Pochen auf der Lichtung aufsetzte.
„Wir sind da!“, wandte sich Sschoarr an seinen Begleiter. Hohk kletterte vom Nacken des Drachen herunter und musterte erstaunt die Umgebung. Ein hellgrüner Moosteppich bedeckte die Lichtung und schien auch noch weiter in den Wald hineinzureichen. Der Wald wirkte vertraut.
„Wie bei uns zu Hause.“, flüsterte Hohk tief berührt und große Augen machend schritt er voran, in den Wald hinein. Es roch angenehm nach Laub und Moos. Die Geräusche der Waldtiere, das Rauschen der Baumkronen, das Knarren und Knacken von Ästen. Dies alles ließ in Hohk das Bild seines Heimatwaldes entstehen. „Wie zu hause.“
Plötzlich wurde die Umgebung schemenhaft, löste sich auf, versank in völliger Schwärze. Undeutlich vernahm Hohk vertraute Stimmen.
„Ich glaube, er kommt zu sich!“
„Na, wird ja auch langsam Zeit!“ Hohk öffnete die Augen und starrte auf die hölzerne Decke der Scheune. Stroh raschelte, als er sich bewegte. Ein kleines Stechen am Kopf sowie ein unangenehmes Pochen in den Ohren erinnerten ihn unsanft an die Auseinandersetzung in der Spelunke.
„Na, Du Held. Wie fühlst Du Dich. häh?“ Olf hockte grinsend neben Hohk und kaute vorsichtig an einem Apfel.
„Miserabel, danke der Nachfrage“, erwiderte Hohk muffig. Jetzt, als er Olf den Apfel verspeisen sah, bemerkte Hohk erst die große Leere in seinem Magen. Seit der Rast unter der Tanne kurz vor Limitir hatte er nichts mehr gegessen. „Haben wir ganz zufällig noch so eine Leckerei!“, fragte Hohk lauernd.
„Aber natürlich!“ Die hübsche Frau mit den roten Haaren beugte sich zu Hohk herab und reichte ihm lächelnd einen Apfel.
„Danke!“ Schnell war der Apfel verspeist und dann der nächste und der nächste. Am Ende hatte Hohk sechs Äpfel verdrückt, bevor er gesättigt seufzte.
„Hohk, darf ich Dir unsere neuen Freunde vorstellen?“ Olf trat feierlich zwischen den Jungen und die Frau. „Zu meiner Rechten siehst du die äußerst attraktive und genauso gefährliche Frau mit Namen Yori!“
„Yoriette“, korrigierte die Schönheit schnell.
„Also gut, Yoriette. Nun, Yoriette, Du siehst hier vor Dir sitzend meinen besten Freund Hohk!“ Hohk nickte höflich und Yoriette tat es ihm gleich. „Und zu meiner Linken steht der überaus rachsüchtige ... au!“ Mit einem Schienbeintritt ließ der Küchenjunge Olf wissen, was er von dieser Titulierung hielt „ ... und äußerst freche Knabe Ricky! Warte, das zahle ich Dir noch heim!“
Ricky lachte hämisch und flüchtete vor Olf mit einem Satz in den nächsten Strohhaufen. Olf jagte hinterher, stoppte dann aber ab und griff sich stöhnend an den Kopf.
„Oh, Mann! Scheint, ich bin noch nicht richtig fit, uff!“ Vorsichtig kam Olf zu Yoriette und Hohk zurück, die sich beide ein Lachen verkniffen. „Was ist das bloß für eine unfreundliche Stadt!“, beschwerte sich Olf, während er sich seinen Nacken massierte.
„Zuerst knöpft uns so ein korrupter Gardist eine Unmenge an Wegezoll ab und dann fallen in der erstbesten Kneipe gleich drei Besoffene Schläger inklusive dem Wirt über uns her. Super, wirklich Klasse!“
Yoriette übernahm die weitere Massage und sagte zuckersüß: „Daran wirst Du Dich wohl gewöhnen müssen, Olfilein! In dieser Gegend sind Schlägereien und Kämpfe an der Tagesordnung!“
„Ich denke, Limitir ist eine friedliche, reiche Handelsstadt?“, mischte sich Hohk in das Gespräch ein.
„Ist sie auch!“, erwiderte Yoriette betont. „Und das ist ja auch der Grund, warum in Limitir soviel Gesindel und schräge Burschen ihr Unwesen treiben. Hier gibt es was zu holen! In keiner Stadt gibt es mehr kriminelle Subjekte als hier! Die Zahl ist so groß, daß es ein richtiges Diebesviertel in Limitir gibt. Dort kannst Du keinem trauen und mußt immer wachsam sein, wenn du nicht ausgeraubt oder gar getötet werden willst!“
„Na gottseidank haben wir uns gestern Nacht nicht in dieses Viertel verlaufen.“, schloß Olf erleichtert.
Yoriette begann zu grinsen und schaute wissend zu Ricky, der im Strohhaufen sitzend das ganze Gespräch mitverfolgt hatte.
„Da muß ich euch allerdings enttäuschen. Ihr seid mittendrin!“

Geschrieben 1996 von Michael Rink (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)
Veröffentlicht in der Unicornus Ausgaben 5 bis 7:

 

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